INA WO(A)NDERS: Über lange und kurze Weilen
Schluss mit Langeweile: im Urlaub verändert sich unser Zeitgefühl. In ihrer Kolumne philosophiert unsere Autorin Ina darüber, warum das so ist und wieso wir unsere Reiseneugier in den Alltag mitnehmen sollten.
Im August war ich im umgekehrten Urlaub. Ich ließ das Meer, die Hitze und den Duft nach Sonnencreme hinter mir und verbrachte drei sehr verregnete Wochen in Deutschland. An einem der wenigen Tage, an denen die Sonne und ein Streifen zartes Blau unter den Wolken hervorlugten und die Temperaturen plötzlich aufmüpfig über die 20 Grad Marke hüpften, saß ich in Mainz auf einem Balkon. Und genoss die Aussicht auf einen sehr pflegebedürftigen, struppigen Garten und den Parkplatz des gegenüberliegenden REWE-Supermarkts. Und hier, mitten in Balkonien, verflog die Zeit, als hätte sie jemand angeschubst.
Zeit ist schon ein seltsames Phänomen: ob wir einen Zeitraum als kurz oder lang empfinden, ist vollkommen subjektiv. Passiert zu wenig, mangelt es an Abwechslung oder fehlt uns die Eigeninitiative, etwas Erfüllendes zu tun, werden Minuten zu Stunden. Und jede noch so kurze Weile wird zu der allseits gefürchteten: Langeweile. Dass wir unproduktive und wenig erfüllende Zeit als negativ empfinden macht evolutorisch gesehen durchaus Sinn. Denn letztlich braucht es genau dieses matschige Gefühl im Kopf, damit wir irgendwann den Anschub entwickeln, etwas anderes, etwas Neues zu tun.
Von wegen Langeweile – auf Reisen verfliegt die Zeit wortwörtlich wie im Flug
Zum Beispiel in den Urlaub fahren. Selbst wenn der Wecker am Tag der Abreise zu einer unerhört frühen Stunde klingelt und wir uns das sonst so verlockend-quälende Snoozen sparen, scheint die Zeit plötzlich schneller zu ticken. Zwischen „ich hab noch was vergessen“ und „Mist, da kommt schon der Zug“ zerkrümeln die Minuten wie schlecht verstaute Butterkekse. Bis wir an unserem Reiseziel angekommen sind, liegt oft eine regelrechte Odyssee an Verkehrsmitteln aus Straßenbahnen, Bussen, Zügen, Airport-Shuttles, Flugzeugen, Fähren und Mietwagen hinter uns. Und die Zeit verfliegt wortwörtlich wie im Flug.
Während der nun vor uns liegenden Urlaubstage am Strand, in den Bergen oder in einer Stadt wünschen sich die meisten vor allem eines: dass die Zeit möglichst lang sein wird, sich aber kurzweilig anfühlt. Glücklicherweise sorgen die vielen neuen Eindrücke, die fremde Umgebung, andersartiges Essen, das Abweichen von der Alltagsroutine und das stete sich-neu-orientieren-müssen dafür, dass Langeweile kaum eine Chance hat. Sogar Situationen, in denen wir zuhause augenblicklich das Smartphone gezückt hätten, um aufkommende Langeweile im Keim zu ersticken – etwa das Warten auf den Bus – können zu kleinen Urlaubsmomenten werden. Zeiträume für Zeit-Träume, in denen wir fasziniert dem Klang einer fremden Sprache lauschen, Menschen dabei beobachten, wie sie ihrem Alltag an diesem fremden Ort nachgehen, und uns ausmalen, wie es wohl wäre, wenn wir einfach bleiben könnten. Von Langeweile keine Spur.
Reisen als Trainingscamp gegen Langeweile und für mehr Neugier
Zurück nach Mainz, nach Balkonien. Schon lange hatte ich keinen deutschen Sommer mehr gesehen. Ich hatte fast vergessen, wie grün und lebendig diese Stadt sein kann, wenn Blätter an den Bäumen hängen. Wenn Menschen plötzlich nicht mehr nur Einkäufe aus dem REWE, sondern Sandalen an den Füßen und ein Lächeln im Gesicht tragen. Ich glaube deshalb, dass wir der gefühlten Dauer einer Weile gar nicht so willkürlich ausgesetzt sind – egal ob im Urlaub oder Daheim. Wir entscheiden, ob wir unsere Augen auf unser Smartphone oder auf die Welt um uns herum richten. Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen hat das Potenzial, uns zu inspirieren. Und idealerweise ist ein Urlaub nicht nur ein Ausbrechen aus dem langweiligen Alltag. Sondern das perfekte Trainingscamp, um unsere Welt wieder mit neugierigen Augen zu sehen. Jeden Tag.
Langweilst du dich oft – und wenn ja, was machst du dagegen? Wie verändert sich dein Zeitempfinden auf Reisen? Schaffst du es, deine Neugier auch nach einer Reise am Leben zu halten – oder packst du sie zusammen mit der Sonnencreme weg, bis zum nächsten Urlaub?
Ich freue mich jederzeit über Feedback, Anregungen oder Fragen – gerne als Kommentar oder direkt per Mail an [email protected].
© Fotos: Ina Hiester, Judith Hehl
Ina Hiester
Ina ist digitale Nomadin und reist zu Wasser und zu Lande durch Europa. Dabei hält die Journalistin stets Ausschau nach besonderen Orten für Good Travel, philosophiert in ihrer Kolumne über das Reisen, fotografiert, musiziert und schreibt Artikel zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen aller Art.
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