Teil 2 der Atlantik-Überquerung
Und wenn was passiert?
Es ist der vierzehnte Tag unserer Reise. Uns trennen noch 1351 Seemeilen von unserem Ziel und ich bin ungewöhnlich reizbar. Als ich kreidebleich im Gesicht von der Toilette komme weiß ich, warum. Ich greife zur Wasserflasche und leere sie in einem Zug, bevor ich wieder auf dem Klo verschwinde. Zwei Wochen mangelhafter, unruhiger und traumverzerrter Schlaf kombiniert mit einem Trinkverhalten, das den steigenden Temperaturen hinterherhinkt, zollen ihren Tribut. Mein persönlicher Albtraum wird wahr: Blasenentzündung mitten auf dem Atlantik. In den nächsten 24 schmerzerfüllten Stunden plündere ich meine Alternativmedizinvorräte. Als ich schließlich endlich eine leichte Besserung verspüre, falle ich in einen unruhigen Schlaf. Und wache schweißgebadet auf. Im Traum war ich wieder 20 und lag mit einer Nierenbeckenentzündung in der Mainzer Uniklinik. Hier draußen gibt es keine Uniklinik. Nur uns, unsere Notfunkbake, einen SOS-Knopf am Satellitenempfänger und ein Notfall-Antibiotikum. Ohne weiter zu zögern werfe ich meine Alternativmedizinpläne über Bord, das Antibiotikum ein und bin zwei Tage später über den Berg.
Alles ist in Bewegung
Gerade rechtzeitig, bevor Captain Alex von einer fiesen Migräne niedergestreckt wird. Er kann plötzlich kein Licht mehr ertragen, hat Schmerzen im linken Auge und verkriecht sich schließlich in der Achterkabine, von wo ich die nächsten Stunden keinen Mucks mehr höre. Abends geht es ihm etwas besser, ich bekoche uns fürstlich, wasche ab, räume auf – und öffnete Narnia. Narnia ist unser Schrank über der Waschmaschine. Weil er irgendwie zu groß ist und wir uns auf kein kluges Stapelsystem einigen können, ist sein Inhalt bei Seegang ständig in Bewegung. Leider ist es dieses Mal die Zuckerdose, die sich den Weg in die erste Reihe gebahnt hat. Das weiß ich allerdings erst, als ein Kilo feinste Zuckerkörner auf dem Fußboden, die umliegenden Schränken und in jede erdenkliche Ritze der Küche prasseln. Und mit jeder Welle rieselt und juckelt sich alles bei lauwarmen Temperaturen so richtig schön fest. Ein klebriges Reinigungsprozedere beginnt, und ja, auch hier wird wieder viel geflucht. Aber auch ein bisschen gekichert.
Bord Kulinarik mit Yoga und Matten
Mit den Wellen steigen die Herausforderungen, und sie enden keinesfalls bei dem Missgeschick auf der Toilette oder der Zuckerkatastrophe in der Küche. Jede Mahlzeit beansprucht maximale Konzentration, denn man hat immer mindestens eine, im Schnitt jedoch eher fünf Hände zu wenig. Eine Hand für den Teller, eine für den Toast, eine für das Marmeladenglas, eine für den Schraubdeckel, eine für die Butter – und dann fehlt immer noch eine zum Festhalten, damit man selbst nicht umfällt. Nach wenigen Tagen habe ich immerhin ein solides System aus Küchenyoga und Antirutschmatten etabliert. Es ermöglicht mir, beide Hände zu benutzen und ab und zu, ganz kurz, etwas abzustellen. Und so schlemmen wir, Wellen hin oder her, 3000 Meilen lang ziemlich hervorragend.
Von Wundern, Bergen, Tälern und Ellenbogen
Keine Welle ist wie die andere, aber mit der Zeit lerne ich, sie einzuschätzen und in Kategorien zu unterteilen. Der gleichmäßige, wogende Schwell. Die Bergkuppen, die plötzlich neben oder hinter uns aufragen und unseren Puls und unsere Augenbrauen in die Höhe schnellen lassen. Die tiefen Täler dazwischen, in denen sich oft eine weitere, heimtückische Welle versteckt, die unseren Rhythmus durcheinanderbringt. Manchmal komme ich mir vor wie in einem geschäftigen Bahnhof. Die einen Wellen streben zielstrebig in die eine, die anderen in die andere Richtung. Manche sind unnötig hektisch, andere lassen sich alle Zeit der Welt. Einige flitzen an uns vorbei und hinterlassen nichts als kleine Wasserspritzer, andere scheinen die Ellenbogen auszufahren und uns gereizt in den Rumpf zu rempeln.
Cold Feet schlägt sich wacker. Den großen Schwell surft sie elegant entlang. Durch die kleinen Wellen pflügt sie erbarmungslos hindurch. Manchmal lässt sie sich kurz vom Kurs abbringen und gelegentlich wirft sie sich gereizt hin und her. Und dann gibt es, ganz selten, die Wunderwellen. Ich verbringe Stunden damit, sie aufzuspüren. Sie sind groß und sanft und heben uns genau von hinten sachte in die Lüfte, tragen uns eine Weile mit sich, bis sie uns ganz behutsam und mit einem unwiderstehlichen wuschhhhh wieder absetzen. In diesen kurzen Momenten gibt es kein Schaukeln und keine Ellenbogen, sondern nur Erhabenheit.
Sonne, Mond und Sterne
Solange wir tagsüber die Sonne und nachts den Mond und die Sterne sehen lebt es sich recht unbesorgt an Bord. Die Sonne wärmt uns und schenkt uns die Energie für unsere Bordelektronik. Und zumindest während der ersten 10 Tage unserer Reise macht der Mond auch Nachts einen Spitzenjob und stellt uns perfekt ins Rampenlicht. Als ob er wüsste, das das hier für uns ein ganz großes Ding ist. Im Verlauf der Reise scheint er uns mehr zuzutrauen. Jeden Abend steht er später auf, liegt manchmal fast schon unverschämt lange in den Kissen bzw. Wolken, bevor er mit einem schiefen Grinsen sein spärlicher werdendes Licht auf uns wirft. Doch auch das hat sein Gutes. Denn es sind vor allem die mondlosen Stunden, in denen das Sternenfirmament seine spektakulärsten Auftritte hat. Hier draußen, jenseits jeder Lichtverschmutzung, funkelt es von Horizont bis Horizont.
Von Wolken und Angsthasen
Je näher wir unserem Ziel kommen, desto genauer beobachten wir den Himmel. Wir wissen, dass mit den letzten 1000 Meilen das Risiko für Squalls steigt. Das sind kurze aber heftige Wetterkapriolen mit viel Wind und Regen. In unserer Sorge vor der ersten Squall-Begegnung lassen wir uns von der Nacht austricksen. Als der Mond weit nach Mitternacht endlich aufsteht, bringt er Wolken zum Vorschein, die heimlich in der Dunkelheit nähergekrochen waren. Er hüllt sie in ein dramatisches Licht, wirft finstere Schatten auf das Meer und unseren Mut kurzerhand über Bord. Wir reffen die Segel und bereiten uns auf das Schlimmste vor. Und es passiert: nichts. Wäre es Tag gewesen, hätten wir vermutlich den bauschigen Wolken zugewunken. Sie höchstens höflich gebeten, doch bitte der Sonne etwas mehr Platz zu machen, wegen unserer Batterien und so. In der Bedrohlichkeit der Nacht hingegen machen wir uns fast in die Hose und kriechen danach stundenlang eher vor uns hin als dass wir segeln. Währenddessen rollen die Wellen kichernd an uns vorbei und scheinen uns „Feiglinge“ zuzugluckern. Wellen haben keine Angst vor der Dunkelheit.
Unser erster richtiger Squall erwischt uns am darauffolgenden Tag und ist keines Falls so schlimm wie befürchtet. Anfangs versuchen wir noch, gegen ihn zu arbeiten, doch schon bald ergeben wir uns. Und nehmen einfach hin, dass er und seine zahlreichen Nachfolger uns stets erst gegen Süden saugen und dann gegen Norden pusten, während wir doch nach Westen wollen. Unser Kurs gleicht dann eher einem wilden Gekrakel als einer geraden Linie. Doch nach spätestens einer Stunde ist der Spuk meist vorüber.
Land in Sicht
In der letzten Nacht taucht am Horizont ein verführerischer Lichterglanz auf. Ein bisschen wie zwei kleine Morgen, die im Westen statt im Osten aufgehen. Die Inseln St. Lucia und Martinique rücken näher. Und als am nächsten Tag mit ihrer südlichen Abruptheit die Sonne aufgeht, ist die Karibik einfach da.
Auf der Zielgeraden Richtung Martinique wird es eng auf dem Kartenplotter. Mehrere Segelboote tauchen auf, die alle einen ähnlichen Kurs verfolgen wie wir, und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in die Quere kommen. Obwohl ich aufgeregt bin, endlich Land zu sehen, bin ich auch ein bisschen wehmütig. Kaum vorstellbar, dass die große Reise bald einfach vorbeisein wird. Oder beginnt sie dann erst? Erkunden, entdecken, kennenlernen, einkaufen, Wasser besorgen, arbeiten, telefonieren, WhatsApp, Insta, Facebook, LinkedIn… 24 Tage lang bin ich ziemlich gut ohne all das ausgekommen.
Europa, Karibik und die kleinen Dinge
In Martinique heißt mich mein Handy dann prompt mit einer SMS willkommen, die mir verkündet, dass Anrufe, SMS und Mobilfunkdaten hier genauso viel kosten wie in Deutschland. 24 Tage segeln und wir sind noch immer in der europäischen Union, auf den französischen Antillen. An Land checken wir in einem kleinen Café ein und bezahlen in Euro. Ich krame mein Französisch heraus und irgendwie ist alles fast ein bisschen zu einfach für einen solchen Meilenstein. Aber dafür umwerfend schön.
Am Morgen nach unserer Ankunft zelebriere ich vor allem eines: das Fehlen der Wellen. Aufmüpfig stelle ich zwei volle Teetassen auf die Arbeitsplatte in der Küche. Ganz nah an den Rand und ganz ohne Antirutschmatte und Küchenyoga. Fasziniert beobachte ich, wie sie sich NICHT vom Fleck bewegen. Ich kehre ihnen bewusst langsam den Rücken zu und gehe im Entenmarsch aufs Klo. Und juchze leise, als ich die Tassen anschließend an exakt derselben Stelle vorfinde, wo ich sie abgestellt hatte.
© Fotos: Daniel James Cook, Ina Hiester
Ina Hiester
Ina ist digitale Nomadin und reist zu Wasser und zu Lande durch Europa. Dabei hält die Journalistin stets Ausschau nach besonderen Orten für Good Travel, philosophiert in ihrer Kolumne über das Reisen, fotografiert, musiziert und schreibt Artikel zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen aller Art.
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