Per Segelboot in die Karibik – Teil 1
Als die Welle kommt, sitze ich gerade auf dem Klo. Die Toilettentüre fliegt auf, ich versuche sie zu greifen. Dabei rutsche ich so weit nach vorne, dass mir der Klodeckel mit Karacho in den Rücken fällt. Ich bemühe mich mit schmerzverzerrter Miene, mein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Da fällt mein Blick auf den Fußboden, wo in den letzten Sekunden im wahrsten Sinne des Wortes einiges danebengelaufen ist. Es ist erst der zweite von 24 Tagen hier draußen auf dem Atlantik. Ich fluche wie ein Rohrspatz und wünsche mich ganz kurz in den Schutz des Hafenbeckens von Las Palmas de Gran Canaria zurück.
Segler: die etwas andere Touristenspezies
Auf den Kanaren hatte schon im November die Haupt-Urlaubssaison begonnen. Millionen von Menschen bevölkern hier, auf der Flucht vor der grauen Kälte des nahenden Winters, jahrein jahraus die Strände. Sie sammeln Sonnenstrahlen auf der Haut und Urlaubserinnerungen in den Souvenirgeschäften. Wir hingegen verfolgten Ende letzten Jahres eine etwas andere Agenda. Statt gierig die kanarische Wärme aufzusaugen, bereiteten wir uns wochenlang darauf vor, der Sonne einfach hinterher zu segeln. Genau wie zahlreiche andere Segler karrten wir Unmengen an Lebensmitteln durch die Gegend. Kauften Medikamente ein, von denen wir hofften, sie niemals zu brauchen. Und durchforsteten systematisch jedes Bootszubehörgeschäft das nicht gerade wegen Siesta oder Fiesta geschlossen hatte. Wir: das sind Alex, Kapitän des Segelbootes Cold Feet, und ich, die Vollzeitvagabundin. Unser Ziel: Palmen, Strand, Karibik. Rund 3000 Seemeilen und viele, viele Wellen entfernt.
24 Tage Digital Detox auf dem Atlantik
Der erste Tag unseres großen Abenteuers verging wie im Flug. Kein Wunder: statt unseren Aufbruch zu genießen, saugten wir wie Süchtige kurz vor dem Entzug gierig die letzten Mobilfunkstrahlen Gran Canarias auf. Verschickten Nachrichten, Fotos und Satelliten-Tracking-Links an alle, die uns einfielen – ganz gleich, ob sie uns vermissen würden oder nicht. Als gegen Abend der Wind auffrischte, beanspruchte das Segeln unsere volle Aufmerksamkeit. Und wenige Stunden später hatte die Nacht nicht nur den letzten Brocken Festland, sondern auch das Internet verschluckt.
Seither kommunizieren wir nur noch sporadisch mit einem kleinen Personenkreis über Satellitenfunk. Mit dabei und unverzichtbar: unsere wunderbaren Wetterflüsterer Michael und Sheila, die uns regelmäßig per Kurznachricht über die launischen Passatwinde auf dem Laufenden halten.
Wie sich Raum und Zeit auf einem Ozean verändern
Ab und zu nehme ich mein Handy in die Hand. Mache ein Foto oder ein kurzes Video. Und lege es wieder weg. Abgesehen von gelegentlichen Fluch-Tiraden gegen die Wellen bin ich die meiste Zeit erstaunlich ruhig und fokussiert. Die Abwesenheit des Internets, gepaart mit nichts als dem offenen Meer um uns herum, schafft jede Menge Raum und Zeit. Hier draußen können wir ohne Unterbrechung Gespräche führen, bis jedes einzelne Wort gesagt, abgewogen und wirklich so gemeint ist. Wenn wir schweigen, driften die Gedanken ungebremst. Sie verfangen sich an keiner Werbetafel und keinem Gebäude, müssen weder die vorbeifahrenden Busse und Autos, noch die Öffnungszeiten des Supermarktes mit einkalkulieren. Allein unser Kartenplotter erinnert vage an eine Welt, in der Geschwindigkeit, Anfang und Ende eine Rolle spielen.
Was es hier draußen zu sehen und zu hören gibt
In vielen glorreichen Segelstunden lauschen wir dem Rauschen des Meeres und dem prickelnden Zerplatzen der Luftbläschen an unserem Rumpf. Dann klingt es, als ob jede Meile es wert sei, mit einem Glas Prosecco begossen zu werden. An anderen Tagen heult der Wind bedrohlich im Rigg. Am Unangenehmsten ist es jedoch, als er uns für zwei Tage fast ganz im Stich lässt und wir mit schlagenden Segeln den Wellen ausgeliefert sind. Doch wir gewöhnen uns rasch an die Abwesenheit von Stille. 24 Tage lang ist es keine einzige Minute leise an Bord.
Die meiste Zeit sehen wir nichts als Himmel, Wolken, Mond, Sterne und Wasser. Selten kommen Vögel vorbei. Hin und wieder begleiten uns Pilotwale oder Delfine und fast täglich sehen wir fliegende Fische. Auf der Flucht vor Fressfeinden springen sie aus dem Wasser und sausen mit bis zu 70 Stundenkilometern oft mehrere hundert Meter durch die Luft, bevor sie wieder abtauchen. Wir Seefahrer fühlen uns ihnen seltsam verbunden. Auch wir sind eine recht merkwürdige Spezies. Und auf unsere eigene Art und Weise sind wir ebenfalls auf der Flucht.
Tschüss Konsum- und Leistungsgesellschaft?
Alle paar Tage tauchen auf dem Kartenplotter große Frachtschiffe auf. Passenderweise sind sie stets in entgegengesetzter Richtung unterwegs – und zwar nicht nur auf dem Kompass. Auf diesen Schiffen herrscht gerade Arbeitsalltag. Die Waren in ihren Containern werden schon bald unsere Konsumgesellschaft erreichen, Bedürfnisse befriedigen und neue wecken. Derweil machen wir das genaue Gegenteil von Arbeit und genießen es, unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft für ein paar Wochen den Rücken gekehrt zu haben. Aber haben wir das wirklich?
Als wir am vierten Tag auf unserem Plotter erstmals ein anderes Segelboot entdecken, verändert sich schlagartig die Stimmung an Bord. Ein Katamaran ist auf einem ähnlichen Kurs unterwegs wie wir. Wir setzen das Großsegel und starren häufiger als sonst auf unsere Geschwindigkeitsanzeige. In Gedanken malen wir uns aus, wie viel Platz die sicher an Bord haben und dass sie mit ihren beiden Rümpfen sicher viel weniger schwanken als wir. Unser ganzes Leben lang wurden wir aufs vergleichen und gewinnen getrimmt. Das legt man auch hier draußen so schnell nicht ab.
Minimalismus trifft Kreuzfahrtschiff
Kurz hinter den Kapverden blitzen Nachts die Lichter von „Mein Schiff 3“ am Horizont auf. Während wir unter vollen Segeln bei einem Hauch von Wind mit Ach und Krach gerade einmal 3 Knoten schaffen, rauscht das Kreuzfahrtschiff mit geschmeidigen 17 Knoten der Insel Boa Vista entgegen. Das Automatische Identifikationssystem AIS verrät mir, dass es sein Ziel morgen früh um 7 Uhr erreichen wird. Der Kontrast zwischen unserem Boot und „Mein Schiff 3“ könnte kaum größer sein. Es ist 293 Meter lang und 36 Meter breit. Es hat ein eigenes Theater, einen Innen- und einen Außenpool, einen Friseur, eine Einkaufspassage und sogar eine Joggingstrecke. Und zahlreiche Bars und Restaurants lassen für seine rund zweieinhalb tausend Passagiere keine kulinarischen Wünsche offen.
Ich hingegen habe heute unsere letzten zwölf kanarischen Mini-Kartoffeln akribisch in einem leeren Eierkarton aufgereiht. So hoffe ich, dass sie noch ein paar Tage länger durchhalten, bis sie zu Keimen beginnen. Für die Bananen hat morgen das letzte Stündlein geschlagen. Und mit aufrichtiger Betroffenheit mussten wir gestern einer faulen Paprika eine Seebestattung verpassen. Wir wissen weder, wann wir ankommen, noch wieviel Essen und Wasser wir dann noch haben werden. Statt eines ausgefuchsten Unterhaltungsprogramms war unser Highlight zuletzt ein Containerschiff, das nachts vergessen hatte, seine Navigationslichter anzuschalten. Geduscht wird mit atlantischem Salzwasser, das wir uns prustend mit Eimern über den Kopf schütten. „Are you happy?“, fragt mich Alex am nächsten Morgen. „Absolutely“, sage ich verwegen. Und meine es so.
Über Energie und Angemessenheit
Unser Leben verlangsamt sich. Normalerweise trifft jeder Mensch am Tag rund 20.000 Entscheidungen, die meisten davon unbewusst. Ja oder nein, dies oder das, jetzt oder später, und wenn dann wie viele? Auf einem 15 Meter langen Segelboot mitten auf einem Ozean fallen viele dieser Entscheidungen komplett weg und wir konzentrieren uns auf das Wesentliche. Haben wir genug Sonne auf den Solarpanelen? Wie geht’s unseren Batterien? Hast du Hunger? Wie viele Orangen haben wir noch? Haben wir zu viel oder zu wenig Wind? Und nutzen wir ihn mit unseren Segeln bestmöglich aus? Willst du ein bisschen schlafen? Oder es wenigstens versuchen?
Während mit den Tagen und Wochen unsere Vorräte und Kräfte allmählich schwinden, zieht der Wind an, intensiviert sich die Sonneneinstrahlung, steigen Temperaturen und Luftfeuchtigkeit. Unsere wasser- und windfesten Klamotten werden verstaut und vergessen und schon ab der zweiten Woche ist es im Bootsinneren fast schon zu warm zum Schlafen. Mit der Kraft des Windes segeln wir 3134 Seemeilen durch vier Zeitzonen. Und spüren die Nähe zur Karibik auf unserer Haut, noch bevor wir sie sehen.
„Angemessen“ ist eines der Worte, das mir unterwegs immer wieder in den Sinn kommt. Ich finde es angemessen, dass wir uns so intensiv auf diese Reise vorbereitet haben. Dass es so lange dauert, bis wir endlich da sind. Dass die Natur mit ihren Wetterphänomenen ein Wörtchen mitzureden hat. Und dass wir körperliche und psychische Grenzen austesten müssen, die über einen Jetlag hinausgehen.
… Auf diesen Grenztest hätte ich jedoch gerne verzichtet …
Wie es weiter geht, lest ihr in unserem nächsten Blogbeitrag: Ina per Segelboot in die Karibik „Teil 2„
© Fotos: Daniel James Cook, Ina Hiester
Ina Hiester
Ina ist digitale Nomadin und reist zu Wasser und zu Lande durch Europa. Dabei hält die Journalistin stets Ausschau nach besonderen Orten für Good Travel, philosophiert in ihrer Kolumne über das Reisen, fotografiert, musiziert und schreibt Artikel zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen aller Art.
6 Comments
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Katzinger Rudolf
Bin leider schon zu alt [83 ]für einen derartigen Trip, fahre aber gerne mit euch mit.
Alles Gute ! -
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Roswitha Etges
Liebe Ina,
Ein frohes Osterfest ,da wo du gerade bist, wünsche ich Dir.
Dein Blick ist sehr interessant.
Komm bitte wieder gesund zurück. -
Susi
Wünsche euch eine gute und erlebnisreiche Zeit.