
Warum reisen wir?
2024 unternahmen wir Deutschen laut Statista rund 170 Millionen Urlaubsreisen. Fast 70 Prozent der Bevölkerung verreiste dabei für mindestens fünf Tage. Erstaunlich, wenn man bedenkt, das sich der Tourismus, wie wir ihn heute kennen, erst im 20. Jahrhundert etabliert hat.
Eine kurze Geschichte des Reisens
Im Mittelalter reisten Pilger, um Buße zu tun, Dank zu sagen oder ein Gelübde zu erfüllen. Kaufleute reisten, um zu handeln, Soldaten zogen in den Krieg. Urlaubsstimmung? Eher nicht. Im 18. Jahrhundert kamen Bildungsreisen in Mode – insbesondere beim britischen Adel. Man schickte die angehenden Lords, Earls, Dukes und Co. auf Grand Tour durch Europa, um neue Eindrücke zu sammeln, fremde Sitten, Sprachen und Kulturen kennenzulernen und Verbindungen zu knüpfen. Das Ziel: mehr Weltläufigkeit, Prestige und Status. Im 19. Jahrhundert wurden die ersten Luxusreisen mit Schiffen und Zügen für privilegierte Oberschichten organisiert. Das war wesentlich komfortabler und ungefährlicher als die individuellen Bildungsreisen. Allerdings waren die Teilnehmenden eher Zaungast vor fremder Kulisse als mittendrin im Geschehen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde Reisen mit den Wirtschaftswunderjahren auch für normale Bürger:innen erschwinglich. Günstige Airlines und das Internet stellten in den 90er Jahren wichtige Weichen für einen Tourismus, der keine Grenzen zu kennen scheint. Aber zurück zur Ausgangsfrage: wozu das alles?

Reisen gehört zu unserem Lebensstil
Als Kind habe ich mir die Frage, warum wir als Familie in den Urlaub fuhren, überhaupt nicht gestellt. Wenn die Tage heißer und die Zeugnisse verteilt wurden und die Schule ihre Pforten für die Sommerferien schloss, war klar: innerhalb der nächsten sechs Wochen würden wir irgendwann das Auto vollpacken und entweder gen Norden ans Meer oder gen Süden in die Berge fahren. Und dort Sachen machen, die wir daheim nicht machen. Später verbrachte ich meine Ferien auf dem Reiterhof oder mit Jugendgruppen in Holland und Dänemark. All diese Reisen waren wunderbar, haben meinen Horizont erweitert, meine Sozialkompetenz gestärkt und meine Neugier für fremde Länder geweckt. Aber sie fanden vor allem deshalb statt, weil man sowas in den Ferien halt macht. Dafür sind die schließlich da. Genauso wie im Erwachsenenleben die Urlaubstage. Reisen wir also aus Gewohnheit? Wer vor Antritt seines wohlverdienten Urlaubs keinen ausgefuchsten Reiseplan präsentieren kann, wird jedenfalls oft mitleidig angeschaut. Ob da jemand finanzielle Sorgen hat? Oder vielleicht einen Pflegefall zu Hause?
Hauptsache weg oder Reisen als Belohnung
Je anstrengender der Alltag und je stressiger der Job, desto mehr streben wir danach, all das zumindest vorübergehend mal hinter uns zu lassen. Das Leben, das wir führen, pusht = drückt uns weg in die Ferne, dahin, wo alles anders ist. Wo das Meer glitzert und die Sonne strahlt. Wo wir uns selbst wieder spüren können – oder das, was von uns übrig ist, wenn das Hamsterrad mal stillhält.
Für viele ist eine Reise damit auch eine Belohnung für die Strapazen des Alltags. Wir gönnen uns endlich was, weil wir das verdammt noch mal auch verdient haben. Genauso wie das neue Kleid und die dazu passende Handtasche. Wer Reisen vor allem als Belohnungsinstrument nutzt, riskiert jedoch, in dieselbe Konsumfalle zu tappen wie beim Shoppen. Je härter wir arbeiten, desto exotischer das Reiseziel und desto häufiger der Kurztrip. Der Glückseffekt verpufft allerdings meist schnell.
Hauptsache hin: Pull-Motive für eine Reise
Wenn uns vor allem unsere Neugier auf andere Länder, Landschaften, Städte und Kulturen in die Ferne zieht, spricht man auch von Pull-Motiven. Wir suchen neue Eindrücke und Erlebnisse, möchten unseren Horizont erweitern, die Welt mit anderen Augen sehen. Neues schmecken, spüren, sehen, fühlen und riechen. Eine Chance, auch mal aus einer anderen Perspektive auf das eigene Leben, die eigenen Umstände, Privilegien und Werte zu blicken. Dann kann eine Reise auch im Nachhinein noch wirken, nämlich wenn wir lernen, unser Zuhause wieder mehr wertzuschätzen.

Reisen für mich oder für mein Ego?
Wir leben im Social-Media-Zeitalter, in dem viele das Bedürfnis haben, ihre Reisen ausgiebig mit Fotos und Videos zu dokumentieren und mit dem Rest der Welt zu teilen. Ich bin da keine Ausnahme. Von den ersten gemeinsamen Reisen meiner Eltern hingegen gibt es nur ein paar verstaubte Dias, die nur der engste Familienkreis je zu Gesicht bekommen hat – damals, als der Diaprojektor noch funktionierte. Haben diese Reisen meine Eltern deshalb weniger erfüllt? Bestimmt nicht. Doch heute sind Reisen und soziale Anerkennung eng verknüpft. Die Idee ist aber auch zu verlockend: wir erleben etwas Tolles an einem fernen Ort und bekommen dafür auch noch Klicks, Likes und Herzchen. Doch Vorsicht: in dem Rausch ist es manchmal schwierig, den eigentlichen, tiefsitzenden, persönlichen Grund für eine Reise überhaupt noch zu erkennen.
Macht euch auf die Suche nach euren Reisemotiven
Die Gründe für die meisten Reisen sind sicher eine Mischung aus Gewohnheit, Flucht, Langeweile und dem Streben nach sozialer Anerkennung. In jedem Fall lohnt es sich, sich mit dieser Vielfalt an Reisegründen einmal genauer auseinanderzusetzen – und zwar auch zugunsten der Zeit vor oder nach dem nächsten Urlaub. Reise ich nur, weil ich endlich weg von meinem Alltag oder mich für besondere Anstrengungen belohnen will? Dann ist es vielleicht höchste Zeit, am meinem Alltag etwas zu verändern. Reise ich, weil ich mich nach mehr Abwechslung und Neuem sehne? Dann wäre vielleicht im Alltag noch Platz für ein neues Hobby. Reise ich nur, um Anerkennung zu gewinnen? Dann könnte Social-Media-Fasten helfen – und folgendes Gedankenexperiment: Stellt euch vor, ihr verreist heimlich, ohne dass jemand es mitbekommen darf. Was wollt ihr erleben und wo wollt ihr hin, wenn ihr niemandem davon erzählen dürft? Wenn die Reise ein Geschenk nur an euch selbst ist?
Ich bin überzeugt: wenn wir unseren Reisemotive ergründen, fällt es uns leichter, Orte und Aktivitäten auszuwählen, die unsere Reisebedürfnisse wirklich erfüllen. Und wenn wir außer uns selbst niemanden beeindrucken wollen, müssen diese Ziele oft auch gar nicht am Ende der Welt liegen. Das schont dann nicht nur unsere Nerven und unser Reisebudget, sondern auch das Klima.
Warum verreist du? Welche Reisen sind die aus welchen Gründen ganz besonders in Erinnerung geblieben? Auf welche hättest du im Nachhinein vielleicht besser verzichtet? Ich freue mich jederzeit über Feedback, Anregungen oder Fragen – gerne als Kommentar oder direkt per Mail an [email protected].
Hier geht es zu Inas Kolumne.
© Fotos: Pexels / Andrew, Nurseryart, Gabriela Palai
Ina Hiester
Ina ist digitale Nomadin und reist zu Wasser und zu Lande durch Europa. Dabei hält die Journalistin stets Ausschau nach besonderen Orten für Good Travel, philosophiert in ihrer Kolumne über das Reisen, fotografiert, musiziert und schreibt Artikel zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen aller Art.
Elke Zapf
Danke für den tollen Beitrag! Zum gleichen Thema bieten wir ein Seminar auf Burg Fürsteneck an. Anmeldungen sind noch möglich.