
Die Gletscher des Schweizer Wallis: Ein Abschied auf Zeit?
Auf der Suche nach den Geschichten der Gletscher reiste unsere Autorin Nadine in den Schweizer Kanton Wallis. Gemeinsam mit Schweiz Tourismus hat sie vier Tage lang nicht nur einiges über die Regionen und ihre Gletscher gelernt, sondern auch am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn die Natur über das Programm entscheidet.

Ab ins Wallis
Anfang Januar ging es für mich ins Wallis, jene Region der Schweiz, die berühmt ist für ihre majestätischen Eisriesen. Das Ziel war es, den Feegletscher in Saas-Fee und den Aletschgletscher zu erkunden. Doch der Plan verlief anders als erwartet: Die angedachte Schneeschuhtour, die uns einen ersten Blick auf den Feegletscher hätte bieten sollen, fiel heftigem Schneefall und dichter Bewölkung zum Opfer. Auch die Tour mit Blick auf den größten Gletscher der Alpen, dem Aletschgletscher, musste aufgrund schlechten Wetters abgekürzt werden. Sicht: eingeschränkt. Erst am letzten Tag unserer Reise wendete sich das Blatt und was wir da sahen, war mehr als atemberaubend. Am Ende hat jedoch nicht das eindrucksvolle Panorama den größten Eindruck hinterlassen, sondern die Geschichten drumherum, sowie die wechselhaften Bedingungen, an die wir uns anpassen mussten, und die uns zeigten, dass die Natur immer noch die Oberhand hat.

Zeitzeugen des Klimawandels
Gletscher sind mehr als beeindruckende Naturphänomene, sie sind auch empfindliche Indikatoren für klimatische Veränderungen. Sie reagieren jedoch nicht unmittelbar auf aktuelle Wetterphänomene. „Ein großer Gletscher hat eine Reaktionszeit von 30 Jahren oder mehr“, erklärt mir unser Bergführer Martin Nellen. Das bedeutet, dass die heutigen Verluste des Eises das Ergebnis von Erwärmungen sind, die vor Jahrzehnten begonnen haben. Kleine Gletscher hingegen reagieren schneller und schrumpfen oft binnen weniger Jahre dramatisch.
Die Zahlen sind alarmierend: In den Alpen haben die Gletscher seit 1850 fast die Hälfte ihrer Masse verloren. Studien prognostizieren, dass bis zum Ende des 21. Jahrhunderts viele Alpengletscher verschwunden sein könnten, sollte die Erderwärmung ungebremst weitergehen. Das Tempo der Abschmelzung hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich beschleunigt. Die globale Erderwärmung, verursacht durch menschliche Aktivitäten wie die Verbrennung fossiler Stoffe, hat mitunter zu diesen dramatischen Veränderungen geführt. Und die Folgen sind spürbar – nicht nur für die Gletscher, sondern auch für die Menschen und die Ökosysteme, die von ihnen abhängen.


„Wir sind nur eine kleine Seifenblase in diesem großen Gebilde“
Martin Nellen, der seit fast einem halben Jahrhundert als Bergführer tätig ist, hat die Veränderungen in den Bergen und vor allem am Aletschgletscher aus erster Hand erlebt. „Im Sommer sehen wir das Abschmelzen von Monat zu Monat, von Woche zu Woche“, berichtete er. Der Rückgang des Aletschgletschers hat seine Arbeit stark beeinflusst: Manche Touren, die früher problemlos möglich waren, sind heute wegen Felsstürzen und instabilem Untergrund nicht mehr sicher. Der Verlust des Permafrosts, der das Gestein zusammenhält, verschärft diese Gefahren. Martin spürt auch eine persönliche Verbindung zu den Gletschern. „Ich leide natürlich mit meinem Freund, dem Gletscher“, sagte er. Der Rückgang des Eises zwingt ihn auch, immer längere Wege auf sich zu nehmen, um zu den verbliebenen Eisfeldern zu gelangen.
Martin begegnet der Situation schlussendlich mit einer Mischung aus Resignation und pragmatischem Realismus. „Wir Menschen überschätzen uns gewaltig“, meinte er. „Die letzte große Eiszeit war vor mehr als 20.000 Jahren. Mittlerweile ist bekannt, dass es über 20 Eiszeiten gegeben hat. Wir sind also nur eine kleine Seifenblase in diesem großen Gebilde.“


Der Mensch als Wendepunkt: Eine neue Ära des Klimawandels?
Martins Worte hallen bei mir nach. Es ist irgendwo eine tröstliche Vorstellung, dass die Natur ihre Zyklen hat, ganz unabhängig von uns. Doch ist es, im Vergleich zu den bisherigen Entwicklungen, dieses Mal nicht doch anders? Es stimmt, die Erde hat in ihrer Geschichte mehrere Eiszeiten durchlebt – die ältesten vor über 2 Milliarden Jahren, die jüngste, die sogenannte „Kleine Eiszeit“, ging bis ins 19. Jahrhundert. Diese Veränderungen waren natürliche Reaktionen auf Variationen in der Umlaufbahn der Erde, tektonische Verschiebungen, vulkanische Aktivitäten und Schwankungen in der Sonneneinstrahlung. Doch was jetzt geschieht, ist neu.
Erstmals in der Erdgeschichte ist der Mensch selbst ein entscheidender Einflussfaktor auf das Klima. Die derzeitige globale Erwärmung geschieht mit einer Geschwindigkeit, die keine natürlichen Zyklen erklären können. Laut dem Weltklimarat IPCC ist es „extrem wahrscheinlich“, dass die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen der Hauptgrund für die Erwärmung der letzten 70 Jahre sind.
Ein künftiges Eiszeitalter wird wahrscheinlich irgendwann kommen – die Zyklen der Erde sind langfristig und überdauern menschliche Zivilisationen. Doch selbst wenn die Erde auf natürliche Weise zu einem Abkühlungstrend zurückkehren wollte, haben unsere Emissionen diesen Prozess weit hinausgezögert. Studien behaupten, dass die menschengemachte CO₂-Konzentration in der Atmosphäre die nächste Eiszeit um mindestens 100.000 Jahre verschieben könnte.
Ein Machtkampf zwischen Mensch und Natur
Das macht unsere Rolle beispiellos: Zum ersten Mal beeinflusst eine Spezies das globale Klima in einem Ausmaß, das geologische Prozesse überlagert. Diese Erkenntnis mag beunruhigen, aber sie birgt auch eine Chance: Wenn wir fähig sind, solche tiefgreifenden Veränderungen herbeizuführen, dann liegt es auch in unserer Macht, Verantwortung zu übernehmen und die Auswirkungen unseres Handelns zu begrenzen. Vielleicht können wir die Vergangenheit nicht ungeschehen machen – aber wir können uns für die Zukunft einsetzen – für uns, für kommende Generationen und für die faszinierende, vergängliche Welt der Gletscher.

Im Angesicht des Gletschers: Staunen und Nachdenken
Nachdem uns zwei Tage lang sowohl die Sicht auf den Feegletscher als auch auf den Aletschgletscher verwehrt blieben, gab es am letzten Tag der Reise einen wortwörtlichen Lichtblick. Auf 2869 Metern, am Viewpoint des Eggishorns, bot sich uns bei strahlendem Sonnenschein nicht nur eine Aussicht auf 40 Viertausender, sondern auch auf den Aletschgletscher, den größten und imposantesten Eisstrom der Alpen. Inmitten des UNESCO-Welterbe Jungfrau-Aletsch ist er mit einer Länge von etwa 20 Kilometern und einer Fläche von knapp 80 Quadratkilometern ein Naturwunder. Der Wind wehte mir um die Nase, die Schneekristalle glitzerten in der Sonne. Mit kalter Nase habe ich versucht, dort oben in knapp 3000 Metern Höhe all das einzusaugen, was der Gletscher mir in diesem Moment darbot. Sein Anblick löste gemischte Gefühle bei mir aus: Staunen über seine schiere Größe und Schönheit, aber auch die Erkenntnis, wie fragil er geworden ist.
Die Gletscher des Wallis lehren uns mehr, als nur etwas über den Klimawandel. Sie erzählen uns nicht nur von der Vergänglichkeit der Natur, sondern auch von unserer eigenen Verantwortung, die uns nicht nur als Beobachter*innen, sondern als Akteur*innen in einem globalen System sieht. Vielleicht ist die wichtigste Frage am Ende nicht, ob wir die Natur retten, sondern ob wir unsere Lebensweise so verändern können, dass wir in Einklang mit der Erde leben und Teil einer Zukunft werden, die nicht nur überlebt, sondern gedeiht.

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Fotos: Nadine Pinezits
Nadine Pinezits
Nadine ist freiberufliche Redakteurin und Texterin. Sie lebt in Österreich und pendelt zwischen Salzburg und Wien. Sie ist somit entweder in den Bergen oder im Großstadtdschungel unterwegs, versucht aber gleichzeitig, so viel Zeit wie möglich in ihrem Herzensland Portugal zu verbringen.
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