Blog I Good Travel

Perspektivwechsel

INA WO(A)NDERS: Über Perspektivwechsel beim Reisen

Reisen sind ein wunderbares Übungsfeld, um öfter mal die Perspektive zu wechseln. Hier erzählt Ina von Ihren jüngsten Erkenntnissen in Großbritannien.

„You live on a boat? Here? Gosh!”

Ob in Griechenland, Italien, Portugal oder der Karibik: an allen anderen Orten, die ich bisher zu Wasser bereist habe, ist man mir als segelnde Weltentdeckerin üblicherweise mit einer Mischung aus Anerkennung, Bewunderung und Neugier begegnet. Und die vielen sich daraus ergebenden Fragen, wie so ein Leben denn funktioniert, habe ich stets gerne und stolz beantwortet. Ja, wir kochen und schlafen auch an Bord. Ja, sogar mitten auf dem Atlantik. Ja, ich arbeite von Bord aus. Nein, es kostet nicht die Welt, wenn man weiß, wie’s geht.

Wenn sich Privilegien in Luft auflösen …

Nun bin ich seit einem Monat an der Südküste Großbritanniens. Familiäre Verpflichtungen haben meinen Freund hierher geweht und ich bin ihm bereitwillig gefolgt. Doch seit wir hier sind, glaube ich, in Gesprächen über meine unkonventionelle Behausung einen geradezu bedauernden Unterton mitschwingen zu hören. Denn wer im Vereinigten Königreich jenseits der kurzen Sommermonate auf einem Segelboot lebt, hat nicht allzu viel zu lachen. Es fehlen die Sonnenstunden, um die Batterien und die gute Laune aufzuladen. Stattdessen schlagen mir die winterlichen Temperaturen und der viele Regen aufs Gemüt. Und ich versinke in tiefe Grübeleien darüber, wie sich scheinbare Privilegien plötzlich in Luft auflösen können.

Hafen in England

… können wir die Welt auf einmal aus einer anderen Perspektive sehen.

Sehnsüchtig und etwas peinlich berührt denke ich dabei oft an eine ganz andere Insel zurück. Als wir letztes Jahr vor der karibischen Insel Dominica vor Anker lagen, war meine Welt noch in Ordnung. Als privilegierte, weiße, digitale Nomadin, die von überall aus arbeiten und Geld verdienen kann, beglückwünschte ich die Locals immer wieder zu der Schönheit ihrer karibischen Insel. Ständig betonte ich, wie viel ursprünglicher und wilder Dominica doch sei im Vergleich zu den wirtschaftlich deutlich besser aufgestellten Nachbarinseln Martinique und Guadeloupe. Im Rückblick ist mir klar, wie plump diese Bemerkungen waren. Denn all das sieht aus der Perspektive jener, die hier leben, sicher anders aus. Schließlich gibt es auf Dominica neben Landwirtschaft und Tourismus kaum Einkommensquellen; die Arbeitslosen- und Armutsrate ist hoch und die Insel wird regelmäßig von heftigen Hurrikanen verwüstet.

Dominica

Alles hat mehrere Wahrheiten

Meine verkehrte Welt hier in England, wo ich für meinen Lebensstil plötzlich eher bedauert statt gefeiert werde, hat mich dazu ermutigt, öfter mal wirklich die Perspektive zu wechseln. Alles, was wir auf Reisen wahrnehmen, hat mehrere Wahrheiten – für die Menschen, die dort leben, und für uns, die wir die Orte nur besuchen. Sollte ich nochmal nach Dominika reisen, habe ich mir fest vorgenommen, die Menschen offen nach ihren Sorgen, Wünschen und Hoffnungen zu befragen, statt sie mit meiner Begeisterung über die wilde Natur ihrer Insel zu überschütten. Und wenn ich irgendwann mal an einem Sommertag hier an der Südküste Englands vor Anker liege, freue ich mich, wenn sich auch die Perspektive anderer Menschen mir gegenüber wieder ändert – und aus Bedauern wieder Bewundern wird.

 

Gelingt es euch auf Reisen, die Perspektive zu wechseln und euch wirklich in andere hineinzuversetzen? Was habt ihr dabei erlebt, wann hat‘s geklappt, wann nicht? Ich freue mich, wenn ihr eure Reisegedanken und -Erinnerungen mit mir teilt – gerne als Kommentar oder direkt per Mail an [email protected].

 

© Fotos: Pexels / ollivves, Ina Hiester, Pexels / Kendell

Ina ist digitale Nomadin und reist zu Wasser und zu Lande durch Europa. Dabei hält die Journalistin stets Ausschau nach besonderen Orten für Good Travel, philosophiert in ihrer Kolumne über das Reisen, fotografiert, musiziert und schreibt Artikel zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen aller Art.

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