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Ein Ding der Möglichkeit

Ein Ding der Möglichkeit – ein alternatives Wohn- und Arbeitskonzept

Julia empfängt uns bei der Ankunft auf dem Hof mit einer herzlichen Umarmung und wir fühlen uns sofort willkommen. Sie kümmert sich hier im Team hauptsächlich um die Gästebetreuung und gibt uns eine ausführliche und spannende Führung über das gesamte Gelände mit Haupthaus, Scheunen und Wiesen. Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr raus, was hier in so kurzer Zeit alles entstanden ist oder gerade noch im Entstehen ist beeindruckend. „Ein Ding der Möglichkeit“ ist der programmatische Name für diesen besonderen Ort, der alternatives Wohn- und Arbeitsprojekt und nachhaltige Gästeunterkunft zugleich ist. In den knapp zwei Jahren seitdem hier acht Erwachsene und fünf Kinder hergezogen sind, ist dieser Ort schon sowas wie eine kleine Institution im Wendland geworden.

Die mutigen Pioniere aus Hamburg und Berlin haben nach langer Suche hier das perfekte Gelände für ihre Ideen gefunden, eine Genossenschaft gegründet, die Finanzierung gestemmt, Pandemie und Inflation zum Trotz stetig ihren Traum zusammen ausgebaut. Dieser ist natürlich für jeden der Mitstreiter:innen ein etwas anderer – aber alle wollen gemeinsam nachhaltiger, selbstbestimmter und kreativer leben. Dafür haben sie gut bezahlte Jobs in Agenturen oder als Berater:innen und Projektleiter:innen aufgegeben, um für ein einheitliches Grundgehalt zusammen zu leben und zu arbeiten. Genug zu tun gibt es hier immer und jede Menge schöne Ideen zu verwirklichen auch. Ein Fachwerkhaus mit wunderschönen Zimmern zum Übernachten, eine große Küche für Koch-Events, eine Sauna mit Blick ins Grüne, eine Theaterbühne und Räume für Yoga-Retreats und Workshops gibt es schon, beziehungsweise werden gerade fertig gestellt.

Glückliche Fügung und Dampf ablassen

Der Hof wird schon seit über vierzig Jahren nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, sondern diente schon die letzten zwanzig Jahre als Unterkunft, Seminarhotel und Hochzeitslocation. Als der Vorbesitzer sich zur Ruhe setzen wollte, fiel ihm glücklicher weise das sympathische Paar wieder ein, das hier geheiratet hat und sich zusammen mit einigen Gästen für dieses schöne Fleckchen Erde interessierte. Den Traum gemeinsam einen solchen Ort zu schaffen gab es im Freundeskreis nämlich schon länger, nur leider fand sich nie das passende Gelände. Aber hier stimmte sofort alles. Und so arbeiten sie seit zwei Jahren als Genossenschaft an ihrem „Prototyp für ein besseres Leben“ und lernen jeden Tag neue Dinge dazu. Wie man zum Beispiel große Veranstaltungen organisiert, wie eine Kläranlage funktioniert, wieviel Liter Kaffee eine Seminargruppe von siebzig Leuten täglich trinkt oder wie man Kochevents erfolgreich promotet.

Und natürlich auch wie man als Gemeinschaft Konflikte und Probleme löst. In regelmäßigen Meetings, wo jeder auch mal richtig Dampf ablassen kann, werden immer wieder aufs Neue gemeinsame Lösungen gesucht und meistens auch gefunden. Mit beeindruckender Offenheit wird über diese Prozesse und die Herausforderungen der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gesprochen. Dabei bringen natürlich alle ihre Erfahrungen, Ideen und auch den Wunsch mit ein, Dinge anders zu machen, als in den früheren Jobs. Diese Bereitschaft so ein Projekt wirklich gemeinsam zu stemmen ist der Motor für die schnellen Transformationsprozesse auf dem Gelände.

Die Bar - Ein Ding der Möglichkeit

Das freie Wendland

Die „Neuen“ haben sich aber auch von Anfang an auf die Wendland-Community eingelassen und holen sich gerne Rat bei anderen Vorreitern, die hier teilweise schon seit den Gorleben- Protesten gegen das geplante Atommüllendlager in den achtziger Jahren und den Demos gegen die Castortransporte leben. Das Wendland hat seit den Protesten überregional einen besonderen Ruf und zieht dadurch schon über Jahrzehnte Aktivisten:innen, Künstler:innen und Nonkonformisten:innen an. Aber auch die Erfahrung der ursprünglichen Wendländer:innen und der Mitarbeiter:innen der ehemaligen Eigentümer fließen in das Projekt ein. Die einst gegründete „Republik Freies Wendland“ der Anti-Atomkraft-Initiative gibt es zwar nicht mehr, aber viele alternative Lebensformen existieren noch heute und entwickeln sich weiter. Dadurch gibt es einen großen Markt für nachhaltige Lebensmittel, die vor Ort hergestellt und vertrieben werden, von denen nicht nur die Einheimischen profitieren, sondern auch die Besucher, die es weiterhin in diese besondere Region zieht.

Gastro im Wendland

Denkmalschutz und vergoldete Löcher

Nachdem der Kauf des Grundstücks beschlossen und die Finanzierung geglückt war, ging es an den Ausbau. Klare Priorität war es, neben der schnellen Internetverbindung zum Arbeiten, die Gästeunterkünfte zu renovieren und dabei so ressourcenschonend wie möglich vorzugehen. Der Denkmalschutz war bei den teilweise über hundert Jahre alten Gebäuden eine echte Herausforderung. Herausgekommen sind wunderschöne Unterkünfte in verschiedenen Größen, deren Stil zwischen modernem Altbau-Charme und Jahrhundertwende-Sommerhaus liegt. Alte Fliesen, antike Lampen, moderne Bäder und ansprechende Farben sind sehr geschmackvoll und individuell zusammengestellt. Der alte Schlüsselkasten und viele Möbel blieben erhalten und wurden kurzerhand mit neuer Farbe oder Polstern restauriert. In Kooperation mit befreundeten Designer:innen sind neue Möbelstücke entstanden, die die Gäste auch nachbestellen können.

Unter dem Putz im Entree fanden sich bei der Renovierung Wandmalereien aus den Zeiten bevor es Tapeten gab. Da beim Abschlagen der alten Strukturen Löcher entstanden, wurde mit etwas Goldfarbe improvisiert und eine Art Kintsugi-Kunstwerk daraus (traditionelle japanische Reparaturtechnik, die übersetzt „reparieren mit Gold“ heißt). So wurden die alten Malereien, die frische Goldfarbe und die neu entstandenen Strukturen zu etwas ganz Eigenem. Fast ein Sinnbild für den gesamten Hof – hier wird Altes renoviert, erhalten, erneuert und ergänzt, so dass eine zeitgemäße Nutzung und eine besondere Ästhetik zusammenkommen. Und es ist auch okay, wenn etwas nicht perfekt ist – Hauptsache es ist nachhaltig und organisch entstanden. Neben dem Gästehaus, gibt es zum Übernachten noch zwei, ebenfalls renovierte, Bauwagen und im Sommer hübsch eingerichtete Tipis mit Matratzen, Teppichen und Lichterketten.

Detail
Zimmer
Zimmer_02_w
Badezimmer

Innovation und warme Füße

Im linksseitigen Gebäude wird während unseres Aufenthalts noch bis spät in die Nacht gewerkelt. Bald soll hier das sogenannte „InnovationsLAB“ eröffnet werden, mit weiteren Seminarräumen, einem Coworking-Space und diversen anderen Nutzungsmöglichkeiten. Natürlich wird aus Kostengründen versucht, möglichst viel selbst zu machen. Da gehört Lehm spachteln und Holz abschleifen genauso zum Tagwerk wie die Gästebetreuung, die Bauleitung und das Marketing. Da nicht jede:r alles gleich gut kann, ist das Team in unterschiedliche Arbeitsgruppen unterteilt und jede Gruppe speziell für einen Bereich zuständig. Größere Entscheidungen werden aber natürlich gemeinsam getroffen, wie zum Beispiel über den Einbau einer modernen und nachhaltigen Hackschnitzel-Heizung, die sich in Zeiten der Energiekrise gelohnt hat und den ganzen Hof mit angenehmer Wärme versorgt. Besonders schön ist die Fußbodenheizung im Yoga-Raum.

Koreanische Snacks im Rundlingsdorf

In einem sogenannten Rundlingsdorf – typisch für die Region – sortieren sich die Grundstücke in Tortenstückform um einen kleinen zentralen Kreis(verkehr) herum. Im Ort Salderatzen, wo sich der Hof befindet, leben dreiundzwanzig Einwohner. Es gibt einen gut sortierten Hofladen mit regionalem Gemüse und Käse, fairem Kaffee und Bio-Wein. In der kürzlich vollständig umgebauten, professionellen Großküche finden zusätzlich regelmäßig Kochevents statt. Dann gibt es mal koreanische, mal italienische oder andere schöne Menüs – überwiegend vegetarisch und vegan, immer biologisch angebaut und saisonal gekocht.

Ein Ding der Möglichkeit Frühstück

Die Kulturelle Landpartie

Jedes Jahr findet im Wendland in der Zeit zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten die sehr populäre „Kulturelle Landpartie“ statt. Dann kann man in offenen Ateliers, Werkstätten und Betrieben nach Lust und Laune Kunst, Kultur und Kulinarisches entdecken. Bei „Ein Ding der Möglichkeit“ gibt es vor allem gute Musik, köstliches Essen und spannende Workshops zu Themen wie nachhaltiges Leben und neues Arbeiten. Das Interesse war bereits 2022 riesig und auch 2023 wird es wieder ein tolles Programm geben. Aber eben auch Raum, um etwas aufzutanken und die Seele baumeln zu lassen. Dafür gibt es Schaukeln, ein Trampolin, die Sauna, eine kleine Bar im ehemaligen Getreide-Silo und jede Menge Sitzmöglichkeiten Mitten in der Natur. Durch die zentrale Lage zwischen den Großstädten Hamburg, Berlin und Hannover und die sehr guten ÖPNV- und Fahrradverbindungen ist der Ort auch ohne Auto gut erreichbar.

Aussteigen auf Probe

Das neueste Projekt heißt „Experiment Landleben“ und findet Anfang März zum ersten Mal statt – eine Art Aussteigen auf Probe oder Workation. Vierzehn Tage lang kann man ganz ohne Risiko und für einen fairen Preis das Aussteigen ausprobieren oder den Traum vom Arbeiten im Grünen leben. Zudem wird es einige Infoveranstaltungen über Wohn- Ausflugs- und Arbeitsmöglichkeiten im Wendland geben. Mittags gibt es dann für alle, die wollen ein gemeinsames Essen zum Netzwerken oder einfach nur zum Plaudern. Und wenn dann dabei neue gemeinsame Ideen entstehen, ist hier der beste Ort sie zu verwirklichen. Denn es ist wahnsinnig ansteckend und inspirierend die positive Energie aller Beteiligten zu spüren und zu sehen, was man alles schaffen kann, wenn man kooperativ handelt und die eigene Komfortzone verlässt (hier geht’s direkt zum Experiment Landleben).

Coworking Space

© Fotos: Ein Ding der Möglichkeit

Geraldine arbeitet als freie Autorin für Good Travel und hat gerade eine Ausbildung zur Nachhaltigkeitsmanagerin absolviert. Nach zwanzig spannenden Jahren beim Film, widmet sie sich jetzt hauptberuflich ihren anderen Leidenschaften – Reisen, Essen und Design.

12 Comments

  • Elisabeth Klein-Altstedde

    Einfach immer sehr informativ und mit viel Liebe zum jeweiligen Projekt geschrieben.
    Ich bin immer wieder begeistert.

  • Britta

    Spannend, so eine quirlige Ecke mitten in Deutschland; wie fruchtbar, wenn historisches Erbe, Nonkonformismus und ein modernes Change-Mindset sich in Raum und Weite treffen.

    • Geraldine Voss
      Geraldine Voss

      Genau so ist es. Gut gesagt und danke für den tollen Kommentar. Liebe Grüße, Geraldine

  • Lina Osho

    Einfach super geschrieben, habe mich beim Lesen gefühlt als wäre ich vor Ort -toll! Und nun habe ich Lust den Hof zu besuchen 🙂

    • Geraldine Voss
      Geraldine Voss

      Vielen Dank für den lieben Kommentar. Es freut mich total, dass ich das Flair und das Gefühl vor Ort transportieren konnte. Viel Spaß im Wendland 😉 Liebe Grüße, Geraldine

  • chris

    Ich war früher ganz oft im Wendland, auch bei den kulturellen Tagen, und bin soooo neugierig und glücklich über die offensichtlich gelungene Lebensform in salderatzen. Leider bin ich zu alt und zu behindert, sonst würd ich euch SOFORT besuchen. Alles erdenklich Gute für euch!!!!!!

    • Geraldine Voss
      Geraldine Voss

      Danke für das Teilen Ihrer schönen Erinnerungen. Es ist wahrlich ein besonderer Ort. Ihnen auch alles erdenklich Gute und liebe Grüße, Geraldine Voss

  • Mites van Oepen

    Klingt nach einem wunderbaren Ort. Da muss ich bald mal hin. Danke für den informativen Text.

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